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Antifa-Roman

48 | Nachts unterwegs

Die nächsten Tage sind stressig für die sechs. Frolic hat die Fotos übergeben, Rainer die Plakate layoutet, die Zwillinge haben den Druck organisiert. Schließlich sind die Fahndungsplakate mit den Nazis auf die kleinen Aktionsgruppen verteilt. Stadtteil, Uhrzeit, Treffpunkt und Aufgaben sind abgesprochen. Die Schüler-Antifa macht komplett mit, außer Celeste und Petra. Alles scheint perfekt organisiert zu sein. Jede Zweiergruppe wird wie besprochen von einem „Schutzengel“ begleitet, einer kampffähigen und erprobten Person. Außer Stefan sind das meist Freunde von Mehmet oder Erkan. Zusätzlich tragen alle Beteiligten eine Waffe für den Notfall bei sich: Pfefferspray, Teleskopschlagstock oder Messer. Die Dreiergruppen sind die Örtlichkeiten einige Tage vorher zusammen abgelaufen. Dabei haben sie genau auf die Hochleistungskameras geachtet, um ihnen nicht vor die Linse zu kommen. Die Laufzeiten zwischen den einzelnen Punkten haben sie gestoppt. Sie wissen jetzt genau, wie lange sie von Aufhängeort zu Aufhängeort brauchen und wo genau sie Plakate anbringen wollen. Das spart vor Ort Zeit. Jede Gruppe klebt wie angedacht 20 bis 30 Plakate in 60 Minuten.

In den Leim sind Glassplitter von zerstoßenen Glühbirnen und Neonröhren gemischt, um das Abkratzen mit den Fingern zu erschweren. Das war Erkans Idee. Das Zeitfenster zum Plakatieren ist genau eine Stunde geöffnet. Danach darf niemand mehr weiter kleben. Aus Sicherheitsgründen für alle. So haben sie es vereinbart.

Nur die Gruppe, die im Westend unterwegs ist, besteht aus fünf Personen. Weil hier die meisten Menschen wohnen, ist das Entdeckungsrisiko auch am größten. Deshalb passen zwei Schutzengel in einiger Entfernung auf, während ein weiterer direkt bei den Plakatierenden wacht.

Das Plakat trägt die Überschrift „Achtung Neonazis!“. Darauf abgebildet sind 20 Porträtbilder von bekannten Faschisten aus Wiesbaden. Darunter stehen Name, Adresse, Schule oder Arbeitgeber sowie, falls vorhanden, die Funktion in der Naziszene, meist sowas wie ‚Mitglied der JA‘, ‚Identitärer‘ oder ‚Autonomer Nationalist‘. Es folgen Infos wie: „2014 Teilnahme an der Hogesa-Demo in Köln“ oder „2010 verurteilt wegen Körperverletzung an einem dunkelhäutigen Imbissbesitzer“. Außerdem prangt auf jedem Plakat der Hinweis: „Vorsicht: Neonazis sind bewaffnet! Schützen Sie sich, ihre Familie und ihre Freunde!“ Am unteren Rand leuchtet die Parole: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!“

Alle sind sehr zufrieden mit dem Plakat.

Als es schließlich losgeht, ist der Fünfergruppe etwas flau im Magen. Sie besteht aus Erkan, Mehmet und Stefan als Schutzengel, Vera und Marlene wollen kleben. Die Aktion beginnt für alle Gruppen um ein Uhr nachts. Dazu haben sie eigens ihre Uhren am Handgelenk noch einmal überprüft. Um diese Uhrzeit sind noch Menschen unterwegs, aber nur eine überschaubare Menge, so die Einschätzung aller Beteiligten. Die fünf beginnen am Sedanplatz und wollen sich über die Wellritzstraße in Richtung Schwalbacher Straße vorarbeiten. Über die Helenenstraße wollen sie zur Bleichstraße gelangen und dort bis zum Elsässer Platz plakatieren.

Am Anfang läuft alles rund. Niemand interessiert sich für sie. Langsam kleben sie die Wellritzstraße voll. Als sie die Bleichstraße erreichen, sind nur noch neun Plakate übrig. Die wenigen Nachtschwärmer kümmern sich auf ihrem Heimweg kaum um die fünf Jugendlichen. Es ist kalt und ungemütlich. Das Wetter lädt nicht dazu ein, stehenzubleiben oder ein Schwätzchen zu halten. Alle wollen nur nach Hause.

Mehmet fungiert als direkter Schutzengel von Vera und Marlene. Er hält sich immer in ihrer Nähe auf. Der Junge ist kein Schläger, aber natürlich war er schon in Prügeleien verwickelt. Aber es machte ihm nie Spaß. Er ist ein ruhiger Typ, ein eher deeskalierender Mensch. In seiner Fußballmannschaft spielt er im Sturm. Mehmet ist unglaublich schnell und geschickt. Vor allem spielt er immer fair. In den vier Jahren im Fußballverein und während aller Turniere hat Mehmet erst drei gelbe Karten gesehen.

Er steht etwas abseits, als ihm zwei Typen auffallen. Der Blonde trägt ein rotes Basecap mit dem Logo einer New Yorker Baseballmannschaft. Sein dunkelhaariger Begleiter ist mit einer braunen Outdoorjacke bekleidet. Die beiden bleiben neben Vera und Marlene stehen.

„Sagt mal, was macht ihr denn da?“, pöbelt die Outdoorjacke los. Seine Stimme klingt verwaschen.

„Wild plakatieren oder was?“, raunzt der Blonde. Auch er klingt, als habe er ein paar Bier intus.

Mehmet ist sofort zur Stelle. „Lasst uns in Ruhe. Sind doch nicht eure Wände“, sagt er zu den beiden in ruhigem Ton.

Der Blonde macht einen Schritt auf Mehmet zu. „Was willst du türkische Schwuchtel denn? Ein paar in die Fresse oder was? Wer redet denn mit dir?“

„Ganz ruhig Mann. Ist doch nichts passiert. Keiner will hier Stress“, antwortet Mehmet und hebt beschwichtigend die Hände.

„Wieso laberst du uns überhaupt an, türkischer Wichser?“

„Ist doch alles okay. Wir wollen doch gar nichts von euch.“

Der Blonde geht noch einen Schritt auf Mehmet zu. Unvermittelt schlägt er zu. Die Ohrfeige trifft, Mehmet taumelt zurück.

„Ich hab‘ die Ladys angesprochen, nicht dich.“

Mehmet hält sich die Wange.

„Verpiss dich.“

„Lasst ihn in Ruhe!“, mischt sich Marlene ein.

Die Outdoorjacke dreht sich zu ihr um.

„Schnauze, Fotze!“

„Halt du doch die Fresse“, antwortet Marlene.

Die Outdoorjacke beachtet sie nicht weiter. Er hält sie mit einem Arm auf Distanz.

„Halt mal Abstand. Gleich wird es hier sehr unschön.“

Der Blonde zieht einen Teleskopschlagstock aus der Jacke.

„Ganz ruhig Mann“, versucht es Mehmet noch einmal. Zwei bewaffnete Gegner sind ein Problem. „Wir haben es ja verstanden und verschwinden.“

Jetzt holt auch die Outdoorjacke etwas aus einer Hosentasche. Ruhig schiebt er sich einen Schlagring über die Finger. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen.

„So, Türkensau“, sagt er. „Jetzt zeige ich dir mal, dass einer wie du hier nichts zu melden hat.“

Der Blonde dreht sich mit seinem Schlagstock zu Vera und Marlene um. „Und ihr bleibt schön weit weg, sonst muss ich euch mit meinem kleinen Freund sehr weh tun.“ Dabei leckt er sich anzüglich über die Lippen.

Die Finger der Outdoorjacke legen sich um den schwarzen Stahl des Schlagrings.

Mehmet kann nur ahnen, was mit seinem Unterkiefer passiert, wenn das Ding ihn dort trifft. Er hört förmlich das Splittern seiner Zähne. Er hat keine Chance. Die Outdoorjacke ist über einsneunzig groß, breites Kreuz, Typ Gerüstbauer. Mehmet sieht ihm seine Kraft an. Doch er ist unfähig, zu reagieren, steht nur verdattert vor dem Riesen. Paralysiert. Er kann sich nicht bewegen. Keinen Millimeter. Er ist wie gelähmt. Der Arm mit dem Schlagring hebt sich, der Typ tritt einen Schritt auf ihn zu. Sein Gesicht ist eine widerliche Maske. Darin spiegelt sich Hass. Und das Wissen, dass er die Oberhand hat.

„Lass ihn in Ruhe!“, kreischt Marlene und rennt auf den Hünen zu. Doch sie kommt nicht weit. Die Hand des Blonden mit der Basecap packt sie am Kragen und hebt sie mühelos in die Höhe, als sei sie aus Balsaholz. „Immer schön langsam. Das türkische Stück Dreck bekommt jetzt mal eine Unterrichteinheit ‚Benehmen‘! Der muss nämlich lernen, was sich in Deutschland gehört. Vor allem als unerwünschter Gast.“

„Er hat einen deutschen Pass.“

„Schnauze, du Bitch! Wenn wir mit dem fertig sind, dann kümmern wir uns um dich und deine blonde Freundin …“ Dummgeil schaut er zu Vera. Sie sieht ihn nur wütend an.

„Du blöder Volldepp, halt dein dummes Maul!“, brüllt sie.

Der Hüne vor Mehmet holt aus. Der schaut nur regungslos auf den Schlagring. Er ist das Kaninchen vor der Schlange. Er sieht das Metall kommen, tut aber nichts. Stocksteif steht er da. Sein Ende jagt in Zeitlupe auf ihn zu. Er kann das Blut im Mund schon schmecken.

Da saust plötzlich etwas durch die Luft. Es kracht auf das Handgelenk des Angreifers. Die Hand wird nach unten abgelenkt und trifft Mehmet mit voller Kraft in die Rippen. Er klappt nach vorne. Sein Schrei hallt durch die Straße. Über ihm fliegt etwas in das Gesicht des Angreifers. Es knackt. Der Koloss reißt die Hände nach oben und taumelt zurück. Der nächste Schlag trifft seine Kniescheibe. Jetzt wankt er. Sein Knie knickt ein. Brüllend fällt er zur Seite. Stefan hat ihn mit seinem Nunchako mehrfach erwischt.

Zeitgleich trifft den Blonden ein Tritt von hinten zwischen die Beine. Erkan ist zur Stelle. Er legt all seine Kraft in den Kick. Rechts ist sein Elfmeterbein. Der Typ brüllt vor Schmerz, greift sich in den Schritt und lässt Marlene los. Sein Basecap fällt vom Kopf. Er sackt stöhnend zu Boden, beide Hände zwischen den Beinen. Sofort ist Vera zur Stelle. Ohne Zögern schüttet sie ihm den Tapetenkleister über den Kopf. Marlene knallt der wimmernden Outdoorjacke ihren Leimpinsel ins Gesicht. Ihre Schwester Isabella fällt ihr ein, und die Wut überkommt sie.

„Ihr widerlichen Vergewaltigerschweine“, ruft sie und schlägt mit dem Pinsel immer wieder zu.

Stefan kümmert sich um Mehmet. Er legt sich einen Arm um seine Schultern. Mehmet kann laufen, aber er hat Schmerzen.

„Wird es gehen?“

„Muss ja,“ antwortet er.

„Los weg hier“, sagt Erkan. Erst jetzt bemerken sie, dass sie nicht mehr allein sind. Zwei Passanten sind stehen geblieben, ein Pärchen kommt auf sie zu, in der Ferne leuchten Autoscheinwerfer. „Mir nach!“, ruft Erkan.

Die fünf lassen alle Sachen fallen und laufen Richtung Frankenstraße. In der Bertramstraße hätten sie Kameras erfasst.

Ihre Materialien am Tatort sind alle sauber. Darauf haben sie von Anfang geachtet. Es dürften weder auf den Tüten, den Plakaten oder dem Pinsel Fingerabdrücke zu finden sein. Noch beim Wegrennen ziehen sie ihre Handschuhe aus und werfen sie weg. Als sie den Kaiser-Friedrich-Ring überqueren, sind kaum Auto zu sehen. Erst als sie am Blücherplatz ankommen, hören sie die Sirenen.

„Welche Richtung?“, will die schwer schnaufende Vera wissen. Sie hasst Sport.

„Wir teilen uns auf, wie besprochen“, antwortet Mehmet mit schwacher Stimme. „Marlene bildet ein Pärchen mit mir und Erkan mit Vera. Stefan spielt den einsamen Spätheimkehrer.“

„Vergesst das Umziehen nicht“, ergänzt Stefan.

Sie holen Kappen und Mützen aus ihren Taschen, drehen ihre Jacken um oder ziehen Regenjacken an. Keine einzige Personenbeschreibung würde jetzt noch auf sie zutreffen. Sie tragen andere Farben und andere Kopfbedeckungen.

„Und vergesst nicht, verliebt auszusehen“, feixt Stefan. Er ist der Coolste von allen.

Mehmet tritt auf ihn zu. „Danke“, sagt er. „Ich war wie gelähmt.“

„Das war mein Job. Ich war Schutzengel“, sagt Stefan ungerührt.

„Das war ich auch, aber ich konnte es nicht.“

„Kann passieren. Es gibt Dinge, die sind unberechenbar.“

„Ich schäme mich.“

„Vergiss es.“

Er hält kurz inne. Dann sagt er: „Ich habe übrigens was für dich.“

Mehmet schaut ihn fragend an.

Stefan greift in seine Jackentasche und holt den Schlagring hervor.

„Der ist für dich. Als Erinnerung.“

„Du hast dem Arsch auch noch den Schlagring abgezogen?“, fragt Vera. „Ich fass es einfach nicht!“

„Klar, und es hat dem ‚echten Deutschen‘ dann endgültig die Schmerzenstränen in die Augen getrieben. Ich musste nämlich ganz schön zerren!“

Erkan lacht. „Mann, du hast echt Nerven!! Voll krass!!! Jetzt aber weg hier!“

Sie trennen sich. Mehmet versteckt den Schlagring in einem Blumenkasten. Mit dem möchte er jetzt wirklich nicht erwischt werden. Er wird ihn die Tage abholen.

Auf wenig befahrenen Nebenstraßen laufen die fünf über unterschiedliche Umwege nach Hause. Es ist nicht auszuschließen, dass die Polizei mit den beiden Typen herumfährt und Ausschau nach den Tätern hält. Deshalb haben sie ihr Aussehen verändert.

Stefan hatte sein Fahrrad an der Fachhochschule abgestellt. Als er ein paar Minuten geradelt ist, holt er sein Handy heraus, und schaltet es an. Er ist nun ziemlich weit vom Tatort entfernt und ruft Petra an.

„Sag mal, kommst du morgen auch zur Party?“ Das ist der Code, wenn alles gut gegangen ist. Die Aussage im anderen Fall wäre gewesen: „Morgen findet wohl doch keine Party statt.“

Auch Petras Antwort ist codiert. „Klar komm ich!“ bedeutet: „Alles in Ordnung!“. „Nein, ich komme nicht!“ oder „Wie schade, bei mir klappt es leider nicht!“ hieße, dass es Probleme gab.

„Klar komm ich!“, sagt Petra sichtlich gestresst. Stefan hört, wie sie an einer Zigarette zieht. „Gut“, sagt er, „ich freue mich.“ Dann legt er auf. Petras Ton nervt ihn schon wieder. In Gedanken versunken läuft er nach Hause. Er will nur noch ins Bett. Aber sein Kopf rast. Mann, was waren denn das für zwei Typen? Die hätten Mehmet wirklich zusammengeschlagen. Einfach so. Weil er Türke ist, bzw. so aussieht. Dabei ist er ja genau genommen gar keiner. Er ist ja hier geboren. Genau wie sein Bruder. Beide haben eine deutsche Geburtsurkunde. Aber für die sind sie Türken. Für immer. Was muss in solchen Leuten abgehen, dass sie überhaupt auf die Idee kommen, so etwas zu tun? Hatte man da eine beschissene Kindheit? Oder hat man die falschen Freunde? Was ist da abgegangen? Drogen? Alkohol? Oder einfach nur Scheiße im Hirn?

Stefan grübelt auf dem ganzen Nachhauseweg vor sich hin. Eine Antwort findet er nicht.